Hymne an das Mittelmaß

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Ich habe diese “Hymne” geschrieben als Antwort auf die heutige “Mode”, den Perfektionismus. Im TV, bei Festen, bei den Kochshows … bei der Kunst. Alles was nicht perfekt scheint wird künstlich “verbessert”. Mir dagegen gefallen die Dinge so wie sie sind.

HYMNE AN DAS MITTELMAß
von Gery De Stefano

Wer hat je eine Hymne über das Mittelmaß gesungen?
Wer hat je seine Vorzüge gepriesen?
Wer hat sich je mit ihm gebrüstet?

Alles muss “super” sein oder “krass” oder “mega”.
Wer bekennt sich dazu das Laue zu mögen?
Nicht das Backofenheiße, nicht das Icegecoolte?

Weißt du nicht, dass im Lauwarmen das beste Lebensmillieu herrscht,
mit allen Vorteilen und Risiken?
Es ist bekömmlich, aber auch rasch verderblich.
Es ist einfach nicht steril.
Warum nur fühlen sich viele Lebewesen darin so wohl?

Ah, das Mittelmaß!
All dies Unfertige, all dies Halbe!
Wie viel Kreativität lässt sie erahnen!
Deine Phantasie wird beflügelt, weil sie sich ausmalen kann,
wie es sein wird wenn…
Sie hat niemals Langeweile.
Sie freut sich auf die Stunde, wenn … die Zeit dafür reif ist,
wenn … etwas gewachsen ist,
selbst wenn sich inzwischen das Angefangene überlebt hat.

Picasso: Entwurf zu “Demoiselles d’Avignon

Und diese vollkommenen Vorgänge!
Wie öde sie sind!
Diese Perfektion!
Alles an seinem Platz.
In der Schublade. In der Akte.
Fertig zum Verstauben.
Das Angefangene dagegen, das Halbe, nimmst du in die Hand,
eine automatische Entstaubung
du nimmst es wahr, siehst es, berührst es, schiebst es hin und her.
Kannst du dir das mit dem Perfekten vorstellen, mit dem Sterilen?
Das steht eher in der Bibliothek oder im Museum oder in der Tiefkühltruhe,
aber was hat das noch mit dir zu tun?

Perfektion ist der Tod.
Das Ende der Kreativität,
in Kunstharz gegossen, in Vinyl gebrannt,
hinter Stahlwände geschlossen inklusive Versicherungspolice.

Das Mittelmaß kannst du nicht einsperren.
Es lohnt sich nicht, denn es ist nur mittelmäßig!
Es ist nur für dich da und hält dich lebendig.

Klar, es kostet Kraft,
vielleicht zu viel für dich.
Mittelmäßig sein bedeutet: immer unterwegs sein, weil nichts fertig ist.

Das Lebendige ist nicht perfekt.
Es ist schief und krumm und unordentlich,
es ist halb und unstet und sprunghaft.
Mal so, mal so.
Es ist unvollendet, das Gegenteil von tot!
Kein Prinzip für alle Ewigkeit.
Eine ständige Evolution.

Das Lebendige kennt keine geraden Kanten und keine Mülltrennung.
Das Lebendige folgt einem inneren Gesetz, das nicht symmetrisch ist.

Ich komme mit den Extremen nicht mehr zurecht:
entweder – oder
ganz oder gar nicht!
Warum nicht ein bisschen?
Warum nicht halbe-halbe?
Warum nicht sowohl-als-auch?
Warum nicht mittelmäßig?
Ich bin so.

Ja, ich bin auch müde, weil ich mittelmäßig bin.
Und ich muss alles doppelt machen, weil ich so vergesslich bin.
Und ich muss so viel suchen, weil überall Angefangenes liegt.
Und ich blamiere mich! Frag nicht wie!
Und ich heule deswegen auch schon mal vor Verzweiflung so vor mich hin.

Aber ich bin so,
inzwischen stehe ich drauf.
Ab jetzt möchte ich mich auch dazu bekennen.

Gery, 2003/2023


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